Leo Haffner (1982): Die Aufklärung und die Konservativen. Ein Beitrag zur Geschichte der katholisch-konservativen Partei in Vorarlberg
Leo Haffner
Die Aufklärung und die Konservativen
Ein Beitrag zur Geschichte der katholisch-konservativen Partei in Vorarlberg
Erschienen in: Nachträge. Zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte. Hrsg. von Meinrad Pichler, Bregenz: Fink's Verlag 1982 (1. Aufl.; 2. Aufl. 1983), S. 10-31
Die neue Zeit
Das 19. Jahrhundert schuf Aufgaben und Probleme wie kein anderes zuvor. "Alle gesellschaftlichen Verhältnisse", so Kurt Fassmann, "gerieten in Bewegung. Die politischen Auseinandersetzungen um die fällige Lösung der konstitutionellen und nationalen Frage, die unaufhaltsame Technisierung der Zivilisation und die mit der Industrialisierung einhergehenden sozialen Konflikte - jedes dieser Probleme für sich schien auszureichen, alle überlieferten 'Konstellationen umzustürzen." Die Konflikte, welche die Versuche der sozialen, ideologischen und politischen Neuordnung begleiteten, führten zu einer tiefgehenden Spaltung der Gesellschaft. Gerade diese Spaltung "zeigt auch, wie sehr wir von jenem Jahrhundert abhängen, ob wir seine Standpunkte nun teilen oder nicht" (1).
Nähern wir uns - ausgehend von einer weiträumigen Betrachtungsweise - den regionalen und lokalen Dimensionen und untersuchen gleichsam die Mikroprozesse der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung, so wird das Bild unübersichtlicher, die Spaltung scheint gemildert zu sein. Dieser Eindruck hängt jedoch weitgehend mit den Bedingungen und Gepflogenheiten der Betrachtung zusammen. (Darauf wird später noch näher einzugehen sein.) Die meisten Konflikte jener Zeit waren auch in politischen Kleinräumen wie Vorarlberg - abgesehen von der Rivalität zwischen bestimmten Orten - verknüpft mit gesellschaftlichen Grundkonflikten des 19. Jahrhunderts. Die politisch Interessierten und Aktiven in Vorarlberg hatten an den Idealen, am Traditions- und am Fortschrittsglauben sowie an den Vorurteilen und geistigen Fehlentwicklungen ihrer Zeit ebenso Anteil wie ihre Zeitgenossen in einem anderen, vergleichbaren Land. Es gab Verfassungsfreunde und Verfassungsgegner; Anhänger des Fortschritts und Fortschrittsgegner; Liberale und Konservative; Konfliktfelder bestanden zwischen Katholiken und Protestanten; zwischen Kapital und Arbeit; zwischen "bäuerlicher Bevölkerung" und "Gebildeten"; zwischen Klerus und Intellektuellen; zwischen Anhängern des Papstes, die die Einverleibung des Kirchenstaates in das Königreich Italien als Raub an der Kirche betrachteten, und Gegnern des Papstes in dieser Frage; zwischen Anhängern und Gegnern des deutschen Nationalgedankens. Natürlich muss berücksichtigt werden, dass nur eine verhältnismäßig schmale Schicht, vor allem städtische Bürger, Beamte, zum Teil auch Lehrer, und ein kleiner Teil der Bauern oder Gastwirte, sich vom neuen Ideengut der Zeit erfassen ließ und an politischen Grundsatzfragen Interesse fand. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die meist in Armut lebenden Bauern und die schlecht ernährten Arbeiter in den Vorarlberger Industriebetrieben, stand der Kampf ums Überleben im Vordergrund. Zudem verfügten die meisten nur über eine sehr bescheidene Schulbildung (2), die eine Anteilnahme an den geistigen Fortschritten kaum möglich machte.
Entscheidend ist jedoch - in bezug auf die tonangebende Bevölkerungsschicht -, dass die gesellschaftliche und politische Entwicklung Vorarlbergs nicht losgelöst betrachtet werden kann vom allgemeinen Strom des historischen Geschehens. Somit tritt das Bürgertum als geschichtsmächtige Kraft ins Blickfeld, sein wirtschaftlicher Aufstieg seit dem Ende des Mittelalters und seine durch die Ideen der Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen beförderte politische und kulturelle Emanzipation.
Gerhard Silberbauer, der mit seinem Werk "Österreichs Katholiken und die Arbeiterfrage" eine der wichtigsten Untersuchungen über die christlichsoziale Bewegung geliefert hat, schreibt über die Zeit des Liberalismus, die dem Bürgertum eine führende Rolle zuwies:
"Die liberale Ära brachte Österreich viel Positives. Die für das Moderne aufgeschlossene Oberschicht des Bürgertums und die Intelligenz konnten auf zahlreichen Gebieten den Kleingeist, das Hinterwäldlertum und die lähmende Scheu vor dem Neuen überwinden und neuzeitlichen Ideen zum Durchbruch verhelfen. Dank der wirtschaftlichen Freiheit konnten große wirtschaftliche Projekte verwirklicht werden. Die Industrialisierung des Staates nahm einen stürmischen Verlauf. Unter dem Einfluss freiheitlich-demokratischer Ideen wurde der absolutistische Geist erheblich zurückgedrängt. Mit der Gewährung der Vereins-, Koalitions- und Pressefreiheit erhielt der Staatsbürger erstmals wesentliche Grundrechte zuerkannt. Der Parlamentarismus konnte, obwohl noch von vielen Kinderkrankheiten behaftet, festen Fuß fassen." Die Schattenseite des Liberalismus sieht Silberbauer im Fehlen einer regulierenden und ausgleichenden Instanz, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich. Die Folge: Die Reichen wurden immer mächtiger, die wirtschaftlich Schwachen aber kamen zunehmend unter die Räder. Der Ausbeutung der Arbeiter waren lange Zeit keinerlei Grenzen gesetzt. Aus Konkurrenzgründen mussten sich selbst sozial aufgeschlossene Unternehmer dem allgemeinen Lohndruck beugen. Die soziale Not wuchs dadurch immer mehr (3). Im weiteren Verlauf entwickelte sich aus dem bürgerlichen Liberalismus eine neue Strömung, die Allmayer-Beck als "liberalen Konservativismus" bezeichnet. Diese Strömung ist gleichsam die liberale Reaktion auf die eigene Revolution. Allmayer-Beck sieht darin den Versuch, die revolutionäre Kettenreaktion, an der die Liberalen einen wesentlichen Anteil hatten, an einem für das Bürgertum günstig erscheinenden Punkt aufzuhalten: Das Bürgertum erkannte, dass der Verbündete von gestern, die Arbeiterschaft, der Gegner von morgen sei. Allmayer-Beck verweist auf Ähnlichkeiten mit einer anderen konservativen Strömung: "Die sicherlich recht egoistisch anmutende Grundhaltung des liberalen Konservativismus, zusammen mit dem kollektiven Klassencharakter des Großbürgertums, legt Vergleiche mit dem feudalen Konservativismus nahe" (4).
Für unseren Zusammenhang bedeutsam ist der Umstand, dass sich im Gefolge der Industrialisierung auch in Vorarlberg tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungen vollzogen. Der Wirtschaftsaufschwung hatte schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedenen Familien ein beträchtliches Vermögen eingebracht, das politische Gewicht der Fabrikanten-Familien erhöht und zum Teil eine Art Patriziertum entstehen lassen. Der Einfluss dieser Familien und ihre Leitbildfunktion hatten die Ausbreitung liberalen Gedankengutes in den Städten Vorarlbergs und darüber hinaus stark gefördert. Für die Gebildeten, für Intellektuelle, Juristen, Beamte, Ärzte usw. war es - von Ausnahmen abgesehen - eine Selbstverständlichkeit, liberal zu sein. Gleichzeitig fand der Gedanke der nationalen Einheit aller Deutschen im Vorarlberger Bürgertum eine starke Anhängerschaft. Charakteristisch für viele liberale Demokraten war schließlich ihre distanzierte Haltung gegenüber dem Klerus. Schon im Revolutionsjahr 1848 hatten der Bregenzer Sängerverein und die Bregenzer Turngemeinde die "Loslösung von Tirol" gefordert, mit der Begründung, dies sei das Land der "Priesterherrschaft und Unduldsamkeit". Propagiert wurde ein Anschluss an ein demokratisches Deutschland, an ein "Deutschland des Frankfurter Parlaments" (5).
Die Kirche und die Liberalen
Als Beispiel für die Spannungen zwischen führenden Vertretern der Kirche und Vorarlberger Demokraten mag der Hinweis auf eine Episode dienen: Bürger von Feldkirch, der Hochburg der Demokraten, waren über einen der Vorarlberger Delegierten im Frankfurter Parlament, den Theologen und späteren Bischof von St. Polten, Dr. Josef Feßler, "so aufgebracht, dass er auf der Heimreise, schon in Bregenz angelangt, nach Bayern zurückkehren musste, um über Imst ins Oberinntal und nach Innsbruck und Brixen zu gelangen" (6). Er hatte sich, so Paula Geist in ihrer "Geschichte Vorarlbergs im Jahre 1848/49", "verdächtig gemacht durch die Art, in der er für alles stimmte, was reaktionär war und allem opponierte, was nur anscheinend in den Bereich des Fortschritts gehörte. ... Er stimmte gegen die Aufhebung des Adels, weil er nicht einsah, 'warum ein Graf oder ein Baron oder ein Herr von ... seinen Titel verlieren sollte, der niemand schade'. Er stimmte für die Todesstrafe, 'weil Gott nach der Lehre der heiligen Schrift den Obrigkeiten das Recht über Tod und Leben gegeben hat'. ... Er hat gegen die Wahrung des Briefgeheimnisses gestimmt, weil dieses Gesetz für Vorarlberg, wo solche 'Missbräuche' nicht herrschten, gar nicht in Betracht käme..." (7).
Die Kritik der Liberalen in Vorarlberg an der Einstellung des katholischen Klerus zu politischen und gesellschaftlichen Fragen darf nicht mit grundsätzlicher Religionslosigkeit oder -feindlichkeit gleichgesetzt werden. In der "Dritten Ansprache des Vereines der Verfassungsfreunde an die Vorarlberger", die 1869 in Feldkirch gedruckt wurde und die Grundsätze der Liberalen in der Schulpolitik zusammenfasste, heißt es: "Der Familie sowohl als dem Staate muss alles daran gelegen sein, ihre Glieder zu religiös-sittlichen Menschen zu erziehen. Dazu gehört wesentlich der Unterricht in der Religion, welcher durch das Schulgesetz vom 25. Mai v. J. in die Hände der Kirche gelegt ist. Welche Familie, welcher Staat wollte wohl, dass seine Kinder ohne Religion erzogen werden?" (8).
Die von den konservativen Publizisten und Klerikern verbreitete Ansicht, die Politik der Liberalen Vorarlbergs sei identisch mit Sittenlosigkeit und Anarchie, ist als politische Polemik zu werten. Der Vorwurf der Religionslosigkeit trifft auch nicht auf die führenden Männer der liberalen Partei zu. Als Beispiel sei der schärfste Kritiker des Klerikalismus und Urvater der Liberalen Vorarlbergs, Carl Ganahl, genannt. Generalvikar Amberg stellte Ganahl im Vorarlberger Landtag das Zeugnis eines auch in religiöser Beziehung ehrenwerten Mannes aus. Ganahl habe sich edel gegen ihn, den Generalvikar, und gegen andere Mitglieder des Klerus erwiesen. Erwähnt sei noch der liberale Landeshauptmann Belrupt-Tissac, von dem das "Vorarlberger Volksblatt" schrieb, es müsse rühmend hervorgehoben werden, dass er seine religiösen Pflichten als Katholik stets getreu erfüllte (9).
Die geistige Ausrichtung des liberalen Bürgertums und seine Auffassungen über die Rolle von Wissenschaft, Bildung und Kultur bargen für das Verhältnis zur katholischen Kirche einen Konfliktstoff von weitreichender Bedeutung. Eine Wissenschaft, die nach Auffassung der Liberalen die Möglichkeit des "freien, voraussetzungslosen" Forschens haben sollte und auf die kirchlichen Dogmen keine Rücksicht zu nehmen brauchte, konnte von der Kirche nicht akzeptiert werden, genauso wenig wie die Vorstellung, der Mensch könne sich ohne Bevormundung durch Staat und Kirche am besten entfalten. "Da der Mensch als ein soziales Wesen und nicht als ein moderner Robinson Crusoe inmitten der Gesellschaft stehe, so gehe es ohne eine soziale Hierarchie, ohne Macht (Autorität) und dementsprechende Unterordnung nicht ab" (10).
Autorität ist denn auch der zentrale Begriff konservativer Theoretiker des 19. Jahrhunderts, etwa Adam Müllers. Für sie ist die Autorität von Staat und Kirche verankert in der katholischen Religion. Daraus ergibt sich das Ziel der "Wiederverchristlichung Europas", und zwar nicht nur als ethische, sondern auch als politische Forderung (11).
Ein System, das Staat und Kirche derart eng miteinander verknüpfen, der kirchlichen Autorität mehr Macht verleihen und das Leben der Gesellschaft - ähnlich wie im Mittelalter - ganz den von der Kirche gesetzten Normen unterwerfen wollte, war aus der Sicht fortschrittlich-liberaler Kreise schwer denkbar. Zudem war die Kirche, vor allem in den ersten drei Vierteln jenes Jahrhunderts, den gewaltigen gesellschaftlichen und sozialen Problemen der Zeit nicht gewachsen. Auch die ihr spätestens seit Galileo Galilei nachgesagte Wissenschaftsfeindlichkeit hatte ihrer Autorität Schaden zugefügt. So stieß dieser Rückgriff auf weit zurückliegende Ordnungsvorstellungen - sechs Jahrhunderte nach dem Investiturstreit, drei Jahrhunderte nach der Reformation und noch mitten in einer Zeit, die unter dem Einfluss freiheitlich-demokratischer Ideen stand - auf heftigen Widerstand: Er war weder vom liberalen noch vom nationalen Standpunkt, geschweige denn vom sozialistischen her annehmbar.
Der Sieg des politischen Katholizismus
Der politische Katholizismus konnte sich im gesamteuropäischen Maßstab nicht durchsetzen. Eine Ausnahme bilden kleine politische Gebilde wie z.B. Tirol, wo die katholische Kirche seit jeher eine mächtige Position innehatte, und Vorarlberg - hier allerdings erst seit dem Jahre 1870. Noch 1861 hatte Statthalter Lobkowitz nach einer Reise durch die (damaligen) sechs Bezirke des Landes festgestellt, "dass in Vorarlberg überhaupt eine freiere - vom klerikalen Einfluss unabhängigere - Anschauung in politischen und religiösen Fragen sich bemerkbar macht" (12); der Vorarlberger Landtag war bis 1870 - von wenigen Ausnahmen abgesehen - liberal; im Bregenzerwald gab es in dieser Zeit durch Franz Michael Felder und Kaspar Moosbrugger bedeutsame Versuche, dem Gedankengut der Aufklärung zum Durchbruch zu verhelfen und den politischen Einfluss des Klerus zurückzudrängen (13). Doch der Wahlkampf des Jahres 1870, der mit einer bis dahin in Vorarlberg noch nie üblichen Härte und Leidenschaftlichkeit geführt wurde, und die Landtagswahl selbst brachten eine radikale Umkehr der Kräfteverhältnisse. Die katholisch-konservative Partei verfügte im Landesparlament nunmehr über 16 von 20 Landtagssitzen (14).
Damit wurde die Richtung des politischen Denkens in Vorarlberg entscheidend geändert. Die von den Liberalen verfolgten Leitbilder in den Bereichen Schule, Bildung und Gesellschaft wurden durch jene der katholischen Kirche ersetzt. Schließlich ist auch in Vorarlberg jene Erscheinung zu beobachten, von der zu Beginn dieses Aufsatzes die Rede war. Der mit Macht ins politische Kräftespiel tretende ideologische Faktor entfaltete seine volle Wirkung: Das Land wurde in zwei Lager gespalten, das katholisch-konservative und das bürgerlich-liberale, und beide Lager bekämpften einander mit Erbitterung und zeitweilig sogar mit Hass. Der Freund-Feind-Gegensatz wurde zum konstituierenden Element politischen Denkens und Verhaltens. Die Propaganda der politischen Vereinigungen, in den Kirchen und Zeitungen brachte eine Erscheinung hervor, die in der Zeit des früheren parlamentarischen Systems in Vorarlberg, im Ständewesen, unbekannt gewesen war: Parteilichkeit als Massenphänomen. Die Konservativen gründeten in verschiedenen Landesteilen sogenannte "Kasinos" (15), die Liberalen stellten ihnen den "Verein für Verfassungsfreunde" und ähnliche Vereinigungen entgegen.
Kaspar Moosbrugger, der beiden Lagern sehr kritisch gegenüberstand, doch mit dem Versuch der Gründung einer eigenen, "auf der christlichen Weltidee fußenden", sozialdemokratisch ausgerichteten Partei keinen dauerhaften Erfolg hatte, berichtet in einem Brief vom 22.8.1868 an seinen Freund und politischen Mitstreiter Franz Michael Felder über eine Kasinoveranstaltung im Oberland: "Die Leute, die da mit dem Christentum groß tun und bei denen jedes zweite Wort 'Katholizismus' ist, sind so engherzig und so selbstzufrieden, dass vielleicht noch leider die liberalen 'Bourgeois' aus ihren Begriffs-Kerkern herauszubringen wären. Ich war letzten Sonntag bei dem Kasinofest in Nenzing, wo 3000 Menschen und Koryphäen unserer sog. Ultramontanen waren und letztere laut und vernehmlich sprachen, aber nicht ein Wort fiel für die Armen, Hilfsbedürftigen. Die reine Reaktion ist da Losung, und alles läuft darauf hinaus, die ultramontane Bourgeoisie zu stärken und zu organisieren, um so der liberalen Bourgeoisie Meister zu werden. Die Herren in beiden Lagern wollen eine Welt für sich, die große Weltströmung ist für sie nicht vorhanden" (16).
Zur sozialen Frage ist allerdings anzumerken, dass die konservative Partei unter dem Einfluss des "Volksblatt"-Redakteurs Florencourt einen scharf antikapitalistischen Kurs einschlug. Damit wurde schon früh der Boden für die Umwandlung der Bewegung in die christlichsoziale Partei bereitet (17).
Auch Vereine mit ursprünglich unpolitischen Zielsetzungen wurden in den Sog des Parteistreits hineingezogen und trugen dazu bei, die Kluft zwischen beiden - zahlenmäßig allerdings ungleichen - Lagern zu vergrößern. Die "liberale Richtung" vereinigte mehr oder weniger die Bildungselite und die Geldaristokratie des Landes, die ultramontane, konservative Richtung umfasste den übrigen, von der Geistlichkeit gelenkten und weit überwiegenden Teil der Bevölkerung, vor allem im ländlichen Bereich.
Das Vereinswesen brachte eine außerordentlich starke Befruchtung des gesellschaftlichen Lebens in Vorarlberg mit sich. Die Vereine erfüllten das Bedürfnis nach Kommunikation, Information und Gruppenidentität. Durch die Propagandaarbeit der Kasinos, der Geistlichen und des "Vorarlberger Volksblattes" trat zudem landesweit etwas ein, was früher - im Zeitalter der Stände und der immer wieder aufflackernden Rivalität zwischen den einzelnen Orten und Talschaften - kaum vorhanden gewesen war: Ein Wir-Gefühl erfasste Kleinbürger und Bauern, es mobilisierte bisher brachliegende Kräfte und sammelte eine breite Gesellschaftsschicht in einem ideologischen Konsens. Die Kasinos haben zudem sicherlich nicht wenig zur Schaffung eines "Vorarlberg-Bewusstseins" beigetragen. Das "Wir-Gefühl" förderte andererseits die Tendenz zur Abgrenzung nach außen und gegenüber anderen Gruppen, zur Geringschätzung oder Ablehnung anderer Werte. Man baute geistige Barrieren gegen die ohnehin dem Liberalismus anhängenden "Studierten" und Intellektuellen auf, und dies hemmte oder verhinderte die Bereitschaft, sich mit Neuem, Fremdartigem vorurteilslos und ohne Befangenheit zu befassen. Es war die Zeit geistiger Verfestigungen im Bauern- und Kleinbürgertum Vorarlbergs.
Diese Entwicklung ging einher mit einem äußerst strengen Puritanismus in Fragen der sogenannten "Sittlichkeit". Dies war freilich nicht allein eine Folge der gesellschaftlichen Kontrolle durch die Vorarlberger Geistlichkeit, sondern man befand sich hier weitgehend im Einklang mit gesellschaftlichen Übereinkünften des viktorianischen Zeitalters.
Von weitreichender Bedeutung für den Charakter der Demokratie in der nunmehr anbrechenden Ära der Konservativen war der Umstand, dass Geistliche in der neuen politischen Landschaft Vorarlbergs eine zentrale Rolle spielten. Im demokratischen System der alten Vorarlberger Stände war der Klerus nicht wahlberechtigt bzw. von der Standschaft vollkommen ausgeschlossen gewesen (18). Wie Paula Geist feststellt, scheiterte jeder Versuch der Geistlichkeit, in der Standschaft aktives oder passives Wahlrecht zu erlangen, "an der Liebe der Vorarlberger zu allem Traditionellen und an dem Misstrauen, das sie allen Neuerungen in ihrer Verfassung entgegenbrachten" (19). Als der Klerus dann in die politische Arena trat, kamen in jenen Kreisen, welche die Tradition gewahrt wissen wollten, schwere Bedenken dagegen auf.
Josef Ratz, der gemeinsam mit Dr. Andreas Fetz, einem fähigen Kopf und angesehenen Juristen, sowie mit fünf Gemeindevorstehern des Bregenzerwaldes eine eigene Kandidatenliste für die Landtagswahl 1871 aufgestellt hatte, schrieb im Jahr dieser Wahl: "Wir ehren und achten den Klerus und möchten ihn hochgeachtet wissen und alles fernhalten, wodurch er an Achtung einbüßen könnte. ... Die Geistlichen aber sollen jetzt in den Landtag sitzen und sich herumbalgen lassen und ihr Ansehen verlieren..." Zudem sei die Einbeziehung von Pfarrern nicht vereinbar mit der politischen Tradition des Bregenzerwaldes (20). Mit Johannes Thurnher, Johann Kohler, Bartholomä Berchtold und Dr. Josef Anton Oelz setzte sich jedoch die radikale Gruppe innerhalb der konservativen Partei durch. Das Unternehmen des Josef Ratz, dem sich auch fünf Wahlmänner der Gemeinde Hard angeschlossen hatten, wurde als "mittelparteiliche" Initiative diffamiert und konnte sich aufgrund der scharfen Agitation der Radikalen nicht behaupten. Der Dornbirner Weinhändler und Landtagsabgeordnete Johannes Thurnher gab als Organisator der Partei auch in den folgenden zwei Jahrzehnten weitgehend den Ton in Fragen der Parteistruktur an. In zahlreichen Schlüsselpositionen der Partei, etwa in der Redaktion des "Vorarlberger Volksblattes" sowie in den Kasinos und im Landtag, finden wir immer wieder politisch engagierte Geistliche. Das Eintreten des Klerus in die politische Arena hatte zur Folge, dass Parteien wie Glaubensgemeinschaften geführt wurden. Die Zugehörigkeit zu einer Partei hatte den Charakter religiösen Bekennertums, und dies galt für beide politischen Lager. Dem Agieren der Geistlichen folgte spiegelbildlich die Reaktion der Liberalen.
So berichtet z.B. Dr. Leo Herburger, der Biograph des langjährigen Dornbirner Bürgermeisters Dr. Johann Georg Waibel, das Gemeindeoberhaupt und der ganze Gemeinderat von Dornbirn hätten sich geweigert, an der Fronleichnamsprozession teilzunehmen. Die "Kasiner" ihrerseits ließen, als das Gemeindewahlrecht zu ihren Gunsten geändert wurde, einen eigenen Marsch - den "Todesmarsch für Dr. Waibel" - komponieren und bei allen Gelegenheiten aufspielen (21).
Hindernisse für die Demokratie
Dass hier wie Glaubensgemeinschaften geführte Parteien und zwei konkurrierende Grundmuster politischen Denkens einander gegenüberstanden, wirkte sich zwangsläufig auf den Charakter der Demokratie in Vorarlberg nachhaltig aus.
Die moderne Demokratieauffassung geht davon aus, dass gleiche Entwicklungsmöglichkeiten für alle Staatsbürger nicht allein im materiellen, sondern auch im ideellen Bereich zu gewährleisten sind. An eine Gleichberechtigung im ideellen Bereich war aber von Seiten der Konservativen nicht gedacht. Ebenso wenig strebte die konservative Partei eine Mehrparteiendemokratie nach westlichem Muster an, das ein ständiges Wechselspiel von Regierung und Opposition erlaubt. Was den führenden Männern der katholisch-konservativen Partei vielmehr vorschwebte, lief im Grunde auf die Errichtung eines geschlossenen Gesellschaftssystems hinaus. Ein Eingehen auf Argumente des politischen Gegners, eine Veränderung des eigenen Standpunktes und Kompromissbereitschaft rückten z.B. in den Augen des Parteiführers Johannes Thurnher in die Nähe von Prinzipienlosigkeit und Glaubensschwäche. Es ist freilich im einzelnen nicht immer leicht zu unterscheiden, ob die Vorgangsweise Johannes Thurnhers in konkreten politischen Fragen auf "Grundsatztreue" oder auf persönliche Ressentiments bzw. Mangel an Bildung zurückzuführen ist. Jedenfalls gehört die Haltung des Parteiführers in Schulfragen zu den dunkelsten Kapiteln in der Geschichte der konservativen Partei.
Der im folgenden zitierte Brief des Lustenauer Pfarrers Thomas Hagen an den Fürstbischof in Brixen vom 5.8.1884 beleuchtet deutlich die Spannungen, die zwischen der politisch ambitionierten Dornbirner Familie Rhomberg - sie stellte später mit Adolf Rhomberg einen verdienstvollen Politiker und Landshauptmann - und dem Dornbirner Johannes Thurnher bestanden. Der Brief wirft aber auch ein bezeichnendes Licht auf die starre Schulpolitik der damaligen Parteiführung, die lieber ein niedriges Bildungsniveau in Kauf nahm, als von ihrer alten Forderung nach einer geistlichen Oberaufsicht der Schulen abzugehen.
"Es ist, wie es einmal scheint, ganz epidemisch geworden, sogar unter dem Klerus, den Landtags- resp. Reichsratsabgeordneten Johann Thurnher als einen selbst- und herrschsüchtigen Tyrannen zu schildern. ... Vorarlberg wäre ohne Thurnher so liberal als vielleicht nur ein Land in der Monarchie sein kann. ... Bis die unheilvolle Entzweiung mit den früher in Dornbirn allmächtigen und angebetet sein wollenden Herren Rhomberg entstand, dachte kein Mensch, dass Thurnher in etwas nicht recht sei. ... Fürstb. Gnaden wissen vielleicht nicht genau, woher die Entzweiung zwischen Thurnher und Rhomberg kommt. - Die erste Veranlassung hierzu war ein Antrag des sel. Herrn Albert Rhomberg im Landtage bezüglich der jetzt bestehenden nichtswerten (sic!) Realschule in Dornbirn, ich weiß nicht vor welchem Jahre. Der konservative Landtag hatte von Anfang an beharrlich gegen das unchristliche neue Schulgesetz gekämpft und jede Aktion auf Grund des neuen Schulgesetzes zurückgewiesen. Die Parole lautete: 'So lang man uns nicht ein Schulgesetz auf christlicher Grundlage gibt, können wir bezüglich der Schule nicht in eine Verhandlung eintreten'. Trotzdem aber ließ sich Albert Rhomberg entgegen den Grundsätzen, die er bis dahin festgehalten, verleiten, einen Antrag zu Gunsten einer k. k. Realschule für Dornbirn einzubringen. Seine Kollegen machten ihn auf die Inkonsequenz aufmerksam, erklärten ihm, sie könnten seinen Antrag, so berechtigt er an und für sich auch wäre, nicht unterstützen. Er wurde aber von Rhomberg doch eingebracht, aber von den Konservativen ganz natürlich fallen gelassen. - Das war natürlich ein Verbrechen, und weil Thurnher derjenige war, der dasselbe beging, katexochen ein Thurnhersches Verbrechen. ... Alles schreit über dessen Herrschsucht und kein Mensch scheint zu wissen, was er bisher dem Lande getan. ... In Anbetracht dessen erlaube ich mir, Euer fürstb. Gnaden ... zu bitten, alles zu tun, um Thurnher im Landtage zu behalten" (22).
Aus der Perspektive vieler Konservativer war das Verhalten Johannes Thurnhers deshalb gerechtfertigt, weil man ihn auf der Seite der guten Sache sah. Die Treue zur Partei wurde mit Treue zur Mutter Kirche gleichgesetzt, zu jener Institution, deren Richtlinien als Koordinatensystem für das Handeln des Katholiken über jeden Zweifel erhaben waren.
Am Rande sei hier auf einen sozialpsychologischen Faktor hingewiesen, der in der politischen Situation Vorarlbergs eine wesentliche Rolle spielte. Die Kirche wirkte nicht allein als Vermittlerin religiöser Inhalte, der Geistliche war nicht bloß Seelsorger. Im Einfluss der Kirche auf den einzelnen und auf die Gesellschaft findet sich ein Schlüssel zur Erklärung grundlegender Autoritätsverhältnisse. Sie prägte die psychische Disposition des einzelnen, bestehende Autoritäten anzuerkennen. Ihre Rolle in der Gesellschaft wirkte aber auch in vielen anderen autoritären Beziehungen nach oder formte diese wesentlich mit, etwa in den Bereichen der Schule, der politischen Parteien usw. Die Kirche erwies sich somit als gesellschaftsbildende Kraft, als "Mörtel der Gesellschaft" (23).
Innerparteiliche Demokratie: Wirklichkeit und Idealisierung
Kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zurück - zu den Hypotheken, die uns das 19. Jahrhundert hinterließ. Gesellschaftliche Grundkonflikte, die die politische Entwicklung im 20. Jahrhundert mitprägten, im Großen wie im Kleinen, müssen unverständlich bleiben ohne das Bemühen, auch die Wurzeln dieser Konflikte freizulegen. Dies bedeutet, sich zu Gegensätzen, zu Widersprüchen und zu problematischen Entwicklungen in der eigenen Geschichte zu bekennen: Nur zu oft aber fungiert Geschichtsschreibung als Kosmetikinstitut für die Vergangenheit.
Wie Karl Heinz Burmeister im Vorwort zu seiner "Geschichte Vorarlbergs" feststellt, ist der Landeshistoriograph in besonderem Maß der Spannung zwischen politischen Rücksichten und wissenschaftlichem Erkenntnisstreben ausgesetzt. Burmeister veranschaulicht die politischen Einflüsse, die den Erkenntniswert eines historischen Werkes mindern, durch den Hinweis auf ein mittelalterliches Bildnis: "Der Berner Chronist aus der Stadtchronik des Diebold Schilling ist an seinem Schreibpult sitzend vor den leeren Seiten seines Buches dargestellt, in der Hand den Gänsekiel haltend; erwartungsvoll blickt er den Ratsherren entgegen, die ihm diktieren, was er zu Papier bringen soll" (24).
Es gibt zahlreiche Faktoren, welche die Unabhängigkeit der Wahrnehmung des Historikers beeinträchtigen. Die Tendenz zur Idealisierung, die Neigung zum positiven Vorurteil, ist schon bei der ersten, 1948 erschienenen Untersuchung festzustellen, die sich mit der Geschichte der politischen Parteien Vorarlbergs von 1870 bis 1918 befasst. Dorle Petsche-Rüsch schreibt im Vorwort zu ihrer Dissertation unter Berufung auf einen Zeitungsartikel (!) aus dem Jahre 1948: "So ist in Vorarlberg nicht nur ein gewisser Wohlstand entstanden, sondern auch jene ruhige Atmosphäre, über die zu keiner Zeit, weder 1848 noch heute die Demagogie triumphieren konnte" (25). Dieses Urteil ist als Vorurteil anzusehen, weil es voraussetzt, was für die jeweilige konkrete historische Situation, für das jeweilige Ereignis und für die jeweils handelnde historische Person erst nachzuweisen ist.
Die Tendenz, das politische Verhalten "des Vorarlbergers" auf eine handliche Formel zu bringen, zeigt sich ebenso bei Ingo Binder: "Extreme Gefühlsäußerungen in politischen Belangen sind dem mehr vom Verstand als vom Gemüt beherrschten Vorarlberger bis heute fremd geblieben. ... Die politischen Parteien des Landes konnten infolge der demokratischen Reife der Bevölkerung nie zu Instrumenten des Hasses oder Kampfes werden" (26).
Abgesehen vom Mangel an Differenzierung und der unwissenschaftlichen Verfahrensweise besteht bei einer Neigung zur Idealisierung eine weitere Gefahr: Das Bild, das man sich - genährt durch ein positives Vorurteil - von einem historischen Untersuchungsgegenstand macht, kann nur dann aufrecht erhalten werden, wenn man in der Auswahl der Fakten, welche dieses Bild bestimmen, selektiv vorgeht, also bestimmte Faktoren - bewusst oder unbewusst - ausklammert.
Ein Beispiel dafür bietet Franz Vögel in seinem Rückblick "Hundert Jahre Vorarlberger Landtag 1861 - 1961". Zum Thema der Meinungsfreiheit innerhalb der im Landtag vertretenen Parteien nach 1870 lesen wir: "Die Ausübung eines Klubzwanges im heutigen Sinn war aber zu jener Zeit noch undenkbar. ... Bei der Abstimmung war jeder Abgeordnete wirklich frei und an keinerlei Parteidisziplin gebunden" (27). Dem ist entgegenzuhalten, dass z.B. im Jahre 1884 ein unter der Leitung von Johannes Thurnher stehendes konservatives Zentralwahlkomitee bestand (auch Landeswahlkomitee genannt), das die Wahlvorschläge für das ganze Land zusammenstellte und das nur solche Männer in die Kandidatenliste aufnahm, die mit dem Kurs der Parteiführung völlig einig gingen. So konnte es geschehen, dass große Gemeinden wie Götzis, Hohenems und Lustenau in jener Landtagsperiode aufgrund der "Auslese" des Zentralwahlkomitees keinen Vertreter in den Landtag entsenden konnten, hingegen mehrere Vorsteher kleiner, unbedeutender Gemeinden zu einem Abgeordnetenmandat kamen, wobei nicht die politische Profilierung, sondern die Gefolgstreue der Betreffenden den Ausschlag gab. Zu erwähnen ist auch, dass bei früheren Landtagswahlen der Dornbirner Arzt Dr. Josef Anton Oelz als Kandidat der Landgemeinden des Bezirkes Bregenz-Bregenzerwald aufgestellt und gewählt worden war, obwohl sich im Bregenzerwald sicherlich zahlreiche geeignete Persönlichkeiten für die Ausübung eines Landtagsmandats hätten finden lassen. Schon der bereits erwähnte Josef Ratz, eine angesehene Persönlichkeit im Bregenzerwald, hatte im Jahre 1872 gegen die Vorgangsweise des Parteiführers Johannes Thurnher protestiert und erklärt, es sei ein Armutszeugnis für den Bezirk Bregenz-Bregenzerwald, wenn er sich - auf Druck der Parteiführung - "einen Abgeordneten von Dornbirn holen müsse" (28).
Ein weiterer Beleg für die durchaus autoritäre Führung der Partei unter Johannes Thurnher ist eine Notiz in den Lebenserinnerungen Adolf Rhombergs (Rhomberg spricht darin über sich in der dritten Person): "In der 2. Session 1885 begann die seitens des Klubobmannes Johannes Thurnher im Klub durchgesetzte Isolierung und Boykottierung Rhombergs. Er wurde in keinen der Ausschüsse gewählt, nur zum Hohn wählte man ihn in einen dreigliedrigen Petitionsausschuss, der aber nichts zu tun hatte" (29).
Die Abwehr des "Fremden"
Das historische Wissen hängt auch von den Fragen ab, die man an die Quellen stellt. Versucht man z.B. die Frage zu beantworten, wie sich der Toleranzgedanke in Vorarlberg entwickelt hat, so wird diese Darstellung ein anderes Bild ergeben als die Arbeit eines Historikers, der die Frage nach der Toleranz gegenüber Protestanten und Juden als nebensächlich erachtet und dafür die "Glaubenseinheit" als wichtiges Element der Eigenständigkeit Vorarlbergs ansieht.
Durch das von den Liberalen durchgesetzte Protestantenpatent vom 8. April 1861, einem Meilenstein auf dem Weg zur Gleichberechtigung aller Bürger des Staates, erhielten die protestantischen Gläubigen wieder das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsausübung zugestanden. Sie durften nach eigenem Ermessen Schulen gründen und sich zu Vereinen zusammenschließen: "Die Verschiedenheit des christlichen Glaubensbekenntnisses kann keinen Unterschied in dem Genusse der bürgerlichen und politischen Rechte begründen" (30). Schon mehrere Jahre zuvor hatte es Bestrebungen der Vorarlberger Protestanten gegeben, die Gleichberechtigung zu erlangen.
"Im Jahre 1857 richteten die in Bregenz und Umgebung lebenden evangelischen Glaubensgenossen ein Gesuch um Errichtung eines Friedhofes mit einer Kapelle und der Aufstellung eines Pastors an den Bregenzer Stadtmagistrat. In einem Schreiben an die Statthalterei ... setzte sich Kreishauptmann Sebastian von Froschauer (der spätere liberale Landeshauptmann; Anm. d. Verf.) wärmstens für dieses Gesuch ein. Aufgrund der 372 in Vorarlberg wohnenden Protestanten scheine ihm dieses Gesuch gerechtfertigt. Um ihre Religionsverrichtungen ausüben zu können, seien sie auf die Gemeinden von Lindau und der Schweiz angewiesen. Da nur die Vermögenderen die Mittel zur Befriedigung der religiösen Bedürfnisse besäßen, lebe der größte Teil der evangelischen Glaubensgenossen ohne Stärkung der Religion. ... Die Anzahl der Protestanten sei zudem im Wachsen begriffen, da die industriellen Verhältnisse Vorarlbergs besser geschulte Leute benötigten, die größtenteils aus evangelischen Ländern kämen" (31).
Der Bregenzer Stadtpfarrer sowie der Stadtmagistrat sprachen sich gegen den Wunsch der Protestanten aus. Trotzdem wurde das Gesuch der Protestanten von der Statthalterei in Innsbruck positiv entschieden (32).
Wenige Tage nach dem Erlass des Protestantenpatents, in der Nacht vom l4. auf den 15. April 1861, fand in Bregenz eine Plakataktion statt, die gegen das Patent gerichtet war. Die Bevölkerung wurde dabei aufgefordert, eine Petition an den Landtag zu unterschreiben mit dem Zweck, dieser möge sich beim Kaiser dafür einsetzen, "dass dem Lande Vorarlberg die Glaubenseinheit erhalten werde und die Protestanten von der Ansäßigmachung ausgeschlossen bleiben" (33). In dem Aufruf finden sich bereits Argumentationsmuster, die in späteren Jahrzehnten in Aussagen der konservativen Partei wiederkehrten:
"Seit den ältesten Zeiten war Einheit des Glaubens der große Vorzug unseres Landes, die Ehre und der Ruhm unseres Volkes, der Hort des Friedens in den Gemeinden. Mit Strömen Blutes haben unsere Väter dieses kostbare Gut erkämpft und vertheidiget. Jetzt sollen wir es auf einmal, für immer, verlieren. Fremde, welche einen andern Glauben bekennen als wir, Fremde, ohne Liebe für unseren Glauben und unsere Sitten, sollen sich bei uns ansäßig machen dürfen, unsere alten, theuer erkauften Rechte, unseren Boden, unseren Erwerb mit uns theilen, und in unseren Gemeinden mit uns, vielleicht bald ohne uns, unsere Angelegenheiten ordnen. An die Stelle des verlornen Gutes werden Zwietracht, Aergerniß und Ohnmacht des Volkes treten, und auf demselben Boden, wo unsere Väter stark, frei und geehrt waren, werden dann unsere Kinder in Schwäche und Dienstbarkeit ein nicht beneidenswerthes Dasein fristen. Schwerer Kummer lagert auf den Herzen der Vaterlandsfreunde, und schon lange haben sich im Stillen die Meisten im Lande für Bewahrung der Glaubenseinheit ausgesprochen. Jetzt ist die Stunde wieder gekommen, wo jeder katholische Christ seinen Glauben öffentlich bekennen und mit allen erlaubten Mitteln dessen Schmälerung abwehren soll. Jetzt noch, und später vielleicht nie mehr wieder, können, dürfen und sollen wir einmüthig und kräftig, wie unsere Brüder in Tirol, aussprechen: Wir wollen in unseren Ortschaften nicht zweierlei Kirchen und Schulen, wir wollen nicht vergrößerte Lasten und Umlagen in der Gemeinde; wir wollen unsern kargen Boden s e l b s t besitzen und bearbeiten, wir wollen unsere bürgerlichen Gewerbe s e l b s t betreiben, wir wollen keine Dienstbarkeit unter fremdem Kapitale und fremder Intelligenz; wir wollen unsere alte Freiheit und unsere altehrwürdigen Sitten nicht verkaufen, wir wollen die Einheit des Glaubens, wie wir sie von unseren Vätern ererbten, ungeschmälert auf unsere Kinder überliefern..." (34).
Der Aufruf ist das früheste gedruckte Dokument der konservativen Bewegung in Vorarlberg, der Unterzeichner der aus Dornbirn stammende Arzt und spätere Landtags- und Reichsratsabgeordnete Dr. Josef Anton Oelz. Der Appell wurde in den meisten Gemeinden von der Kanzel aus verbreitet, die Unterschriftenlisten wurden im Gemeindehaus, im Schulhaus oder in der Sakristei aufgelegt. Wie Walter Spiegel feststellt, fand der Aufruf in der Bevölkerung geteilte Aufnahme. In den Städten Bregenz, Feldkirch und Bludenz fanden sich nur wenige zur Unterschrift bereit, der größte Teil der Industriearbeiter und der Gebildeten nahm Anstoß am Vorgehen des Dr. Oelz und seines Komitees. Dort, wo keine Industriebetriebe existierten, bzw. in den zahlreichen Landgemeinden fand der Aufruf die größte Zustimmung. Walter Spiegel weist in diesem Zusammenhang auf den großen Einfluss und den moralischen Druck des Klerus auf die Landbevölkerung hin. Ein junger Geistlicher z.B. bezeichnete jene, die die Unterschrift verweigerten, "schlechter als die Protestanten und ließ sie die ewige Verdammnis erwarten" (35).
Will man die Haltung der Bevölkerung in öffentlichen Angelegenheiten beurteilen, so wird man stets auch die Rolle der Propaganda, die Autorität einflussreicher Personen sowie die jeweiligen Abhängigkeitsverhältnisse berücksichtigen müssen. Die Kraft der protestantenfeindlichen Initiative reichte damals (1861) jedenfalls nicht aus, um den Gläubigen des augsburgischen und helvetischen Bekenntnisses im Lande ernsthaft Schaden zuzufügen. Dennoch ist der Aufruf für uns von Bedeutung, weil hier soziale Einstellungen und Argumente auftreten, die auch im Kampf der Konservativen gegen ihre Gegner in Vorarlberg wirksam wurden: Ein Anliegen der katholischen Kirche wurde zum Anliegen des gesamten Landes erklärt. Der Appell an "die Herzen der Vaterlandsfreunde" suggeriert, das Auftreten gegen die Protestanten sei identisch mit einem Bekenntnis zur Heimat Vorarlberg: Die Angehörigen der religiösen Minderheit werden zu Fremden, Heimatlosen gemacht.
Gleichzeitig knüpft der Aufruf an die "Tradition" an: Er erinnert an die Gegenreformation und beschwört das Opfer der Väter, die "mit Strömen Blutes das kostbare Gut der Glaubenseinheit erkämpft haben". Die Anerkennung der Protestanten werde nicht nur den sozialen Abstieg der Vorarlberger Bevölkerung zur Folge haben, der Verfasser spricht auch im Namen der Freiheit: "Wir wollen unsere alte Freiheit und unsere altehrwürdigen Sitten nicht verkaufen." Es ist ein Freiheitsbegriff, der ins Mittelalter zurückreicht und von der Aufklärung unberührt blieb - 82 Jahre nach Lessings "Nathan", dem berühmtesten Stück der Aufklärung. Freiheit nur für die eigene, nicht aber für die "fremde" Religion.
Bildung wozu?
Die entscheidenden Schritte, die zur Schaffung der konservativen Partei führten, sowie ihre weitere Entwicklung können hier kurz skizziert werden. Sie sind in einer anderen Arbeit des Verfassers (36) ausführlich geschildert. 1866 gründeten katholische Geistliche das "Vorarlberger Volksblatt", das zum wichtigsten Bindeglied und Propagandainstrument der Partei werden sollte. Ende 1867 setzte die katholische Vereinsbewegung ein, die der Partei den organisatorischen Rückhalt gab. Eine besondere Bedeutung für die Geschichte und die ideologische Ausrichtung der katholisch-konservativen Bewegung erlangte die Auseinandersetzung um das Konkordat. Dieser 1855 zwischen Kaiser und Papst geschlossene Vertrag überantwortete der Kirche eine große Fülle an Macht: die kirchliche Aufsicht über den niederen und mittleren Schulunterricht, die volle Gerichtsbarkeit der Kirche in Eheangelegenheiten; weiter sah der Vertrag die staatliche Beihilfe zur Unterdrückung kirchenfeindlicher Bücher und Schriften vor, der Grundsatz der Gleichberechtigung für Nichtkatholiken wurde aufgehoben, der Kirchenaustritt wurde erschwert u.a.
Als nach dem Zusammenbruch des Absolutismus die Liberalen an die Macht kamen, war die Bekämpfung und die Beseitigung der Konkordatsbestimmungen eines ihrer wichtigsten Ziele. Das Parlament wies den Unterricht in den Volksschulen und Gymnasien dem Wirkungsbereich des Staates zu. Die Liberalen vertraten außerdem das Prinzip, dass der Unterricht in allen Gegenständen, außer in Religion, unabhängig von jedem Einfluss der Kirche zu erfolgen habe. Kirche und Schule wurden somit getrennt, dem Staat stand nunmehr das Recht der obersten Leitung und Schulaufsicht zu. Den nun einsetzenden Protesten in Vorarlberg erwiderten die Liberalen in der "Ersten Ansprache des Vereins der Verfassungsfreunde an die Vorarlberger":
"Da richtet sich die Klage der Kirche dahin, dass sie, die bisher die ausschließliche Herrschaft über die Schule hatte, ihren Einfluss nun mit der Gemeinde und dem Staate teilen soll. Aber ist dies mehr als billig, da ja Gemeinde und Staat die Schule bezahlen? - Und der schlechte Zustand der Volksschulen beweist, dass es nötig, das Schulwesen ganz anders in die Hand zu nehmen, als es bisher von Seite der Geistlichkeit geschehen ist. Auch nach dem neuen Schulgesetze bleibt der Kirche ein großer Einfluss auf die Schule gewahrt, und die Erteilung des Religionsunterrichtes wird ja geradezu der Geistlichkeit zur Pflicht gemacht. Also von Entsittlichung und Entchristlichung der Schule ist keine Rede" (37).
Beim Widerstand und in der Propaganda gegen die liberale Verfassung spielten jene Geistlichen, die im Priesterseminar in Brixen ausgebildet worden waren, eine entscheidende Rolle. Sie gingen ungleich radikaler vor als jene Priester, die man der "Konstanzer" oder "Badischen Schule" zuzählte (38). Zusammen mit einigen Laien waren sie der Motor bei der Mobilisierung vor allem der bäuerlichen und kleinbürgerlichen Bevölkerung gegen die neuen Gesetze.
Benedikt Bilgeri sieht in diesem mit außerordentlicher Heftigkeit geführten Kampf vor allem eine Auseinandersetzung mit dem Zentralismus. In einem Aufsatz mit dem Titel "Die politische Entwicklung Vorarlbergs bis 1918" schreibt er unter anderem:
"Seit Juli 1870 verloren die Liberalen, geschwächt durch ihre geistige Verwandtschaft mit der Regierungspartei in Wien, infolge ihrer unpopulären Einstellung zur Schule und auch zum Kapitalismus für immer die Mehrheit an die Konservativen (im Landtag; Anm. d. Verf.). Kaum jemals ist das tausendjährige Staatsrecht Vorarlbergs mit größerer Energie und bis heute beispielhaft verfochten worden, als in der Frühzeit der Konservativen. Damals ging der Kampf in erster Linie gegen das 'Heer von fremden Beamten', für die selbständige Verwaltung des Landes durch Vorarlberger, unter eigener Landesoberleitung. Die Steuerämter und das ganze Schulwesen sollten an das Land übergehen..." Über die Qualität des Vorarlberger Schulwesens urteilt Bilgeri: "Die Schulbildung war mancher Missstände ungeachtet die beste im ganzen Groß-Staat" (39).
Diese Aussagen Bilgeri sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert - insbesondere im Hinblick darauf, dass sie nicht etwa im 19. Jahrhundert, sondern im Jahre 1968 formuliert wurden. Der Autor identifiziert sich vorbehaltlos mit dem Anliegen der damaligen konservativen Partei, ja er attestiert deren Haltung die Funktion eines bis in die Gegenwart nicht mehr übertroffenen Vorbilds. Das Anliegen der konservativen Partei wird bei Bilgeri ohne Umschweife zum Anliegen "des Landes" erklärt. In der Liberalen Partei Vorarlbergs hingegen sieht er völlig unvorarlbergische Elemente am Werk: Denn die Liberalen seien "geschwächt durch ihre geistige Verwandtschaft mit der Regierungspartei in Wien".
Die positiven Assoziationen, die der Autor mit der Berufung auf das Streben der Konservativen nach größerer Eigenständigkeit Vorarlbergs beim Leser zu wecken sucht, können jedoch nicht vergessen machen, dass die Landtagsmehrheit unter der Führung der Abgeordneten Johannes Thurnher, Johann Kohler und Pfarrer Bartholomäus Berchtold nahezu drei Jahrzehnte lang eine Politik verfolgte, die der Entwicklung des Landes in den Bereichen Schule und Kultur schweren Schaden zufügte. Der Landtag weigerte sich bis zum Jahre 1889, auf der Grundlage der von den Liberalen beschlossenen Verfassung in irgendeine Verhandlung zu treten. Für die Parteiführung war das Problem eine Prinzipienfrage, die Folgen freilich waren verheerend: "Vorarlberg entlohnte in jenen Jahrzehnten seine Lehrer am schlechtesten von allen Ländern der Monarchie", stellt Gerhard Oberkofler fest, "und das, obwohl Vorarlberg als Industrieland außerordentlich hohe Lebenshaltungskosten aufwies. ... Ohne einer Nebenbeschäftigung nachzugehen, konnte ein Lehrer, oder gar ein Unterlehrer kaum daran denken, eine Familie zu gründen und zu ernähren" (40). Meist waren die Lehrer gezwungen, zum Nebenerwerb als Organisten, Gastwirte, Landwirte, Versicherungsvertreter und später als Kassierer bei Raiffeisenkassen tätig zu sein - und dies alles trotz der eifrigen Bemühungen der Statthalterei, den Vorarlberger Lehrern ihr gesetzliches Gehalt zu sichern.
Einer der wenigen konservativen Parteiangehörigen, die sich für die Verbesserung der jämmerlichen sozialen Situation der Lehrer Vorarlbergs einsetzten, war der Dornbirner Abgeordnete Martin Thurnher, einer der fleißigsten und verdienstvollsten Mandatare, die Vorarlberg in den letzten Jahrzehnten der Monarchie besaß. Charakteristisch für den Stil des Parteiführers Johannes Thurnher war, dass die konservativen Klubmitglieder durch ein Gelöbnis gebunden wurden, in allen Fällen so zu stimmen, wie die Klubmajorität entschied (41). Bezeichnend auch die Haltung gegenüber liberalen Lehrern: Im Falle einer Erhöhung der Lehrergehalte war daran gedacht, nur katholischen Lehrern eine Gehaltsaufbesserung zu gewähren. "Den Mitgliedern des starken liberalen Lehrervereines, 'deren Richtung in striktem Widerspruche steht mit christlicher Lehre und christlicher Weltanschauung', wollte man ... die Vorteile einer Gehaltserhöhung nicht zuteil werden lassen" (42) - wessen Richtung da wohl wirklich christlicher Lehre widersprach?
Es war nicht verwunderlich, dass zahlreiche Vorarlberger Lehrer, vor allem jene mit besseren Zeugnissen, in andere Kronländer der Monarchie abwanderten. Diese Tendenz zur negativen Auslese innerhalb der Lehrerschaft sowie der für die verbleibenden Lehrer bestehende Zwang, einen zweiten Beruf auszuüben, wirkten sich auf das Niveau des Schulwesens naturgemäß schädlich aus. Die Bemerkung Benedikt Bilgeris, die Schulbildung sei die beste im ganzen Großstaat gewesen, kann sich lediglich auf die Maßnahmen zur Beseitigung des Analphabetentums beziehen. Aufgrund der relativ hohen Schuldichte wies Vorarlberg im Jahre 1913 "0,81 Prozent Analphabeten auf, die geringste Quote der in den Alpen- und Karstländern gelegenen Gebiete" (43). Über die Einstellung der Landtagsmehrheit zum mittleren Schulwesen gibt der früher zitierte Brief des Lustenauer Pfarrers Thomas Hagen Aufschluss.
Kulturelle Konsequenzen
Dreißig Jahre lang Rückständigkeit im Schulwesen - die Folgen sind nicht messbar, sicherlich aber sehr weitreichend. Vielleicht hängt damit jene Ungleichzeitigkeit zusammen, die jahrelang die Situation im kulturellen Bereich bestimmte. Ungleichzeitigkeit - damit meine ich den Umstand, dass bestimmte Erscheinungsformen von Kunst und Kultur in Vorarlberg noch zu einer Zeit abgelehnt wurden, da sie andernorts längst zu einem Bestandteil des kulturellen oder gesellschaftlichen Bewusstseins geworden waren. Man wird an einen Eisenbahnzug erinnert, der mehrere Jahrzehnte lang in einer Station stehengeblieben ist und dessen Fahrgäste dann bei der Weiterfahrt ganz verwirrt sind, weil sich die Landschaft inzwischen völlig verändert hat.
Wie es der Pfarrer von Mellau, Mätzler, 1887 formulierte, sollte die Aufführung von Theaterstücken "vor allem nach den Grundsätzen unserer heiligen geoffenbarten Religion gemessen werden". Diesen Maßstab anzulegen sei jeder Katholik, vorab aber der Priester, berechtigt. Pfarrer Mätzler sprach sich aus diesem Grund und wegen der "Schlechtigkeit des Stückes" vehement gegen die Aufführung von Schillers "Räuber" durch die Theatergesellschaft Bizau aus. Als dasselbe Stück 1893 im Dornbirner Vereinshaussaal über die Bühne gehen sollte, wurde die Aufführung von der Kasinoleitung überhaupt verboten - 111 Jahre nach der Uraufführung dieses Dramas der Kampfansage gegen Zwang und Gewalt. In Dornbirn war es üblich, dass der Direktor der jeweils gastierenden Wanderbühne das Textbuch des aufzuführenden Stückes vorzulegen hatte, damit unpassend erscheinende Stellen gestrichen werden konnten. Jede Theateraufführung wurde erst dann genehmigt, wenn die Wanderbühne sich diesem Verfahren unterwarf.
Vorarlberg dürfte auch nach dem Zweiten Weltkrieg eines der wenigen Gebiete im demokratischen Europa gewesen sein, in dem eine solche Zensurpraxis fortgesetzt wurde. In den folgenden Darlegungen folgen wir einer Untersuchung von Sibylle Fritsch, in der die Situation des professionellen Theaters der Nachkriegszeit in Vorarlberg geschildert wird (44). Der Intendant der Vorarlberger Landesbühne, Kaiser, berichtete der Verfasserin, dass er vor jeder Vorarlberg-Tournee die einzelnen Gemeinden um eine Aufführungsbewilligung anschreiben und den Text des Stückes beilegen musste. Die Genehmigung erfolgte, wenn die Thematik der Haltung der jeweiligen Behörde entsprach. Die von den Vorarlberger Gemeinden vorgenommene Zensurierung der Stücke ging laut Kaiser "weit über den Rahmen der nationalsozialistischen Zensurstellen hinaus" (45). Auch die Landesregierung schaltete sich bei der Frage der Stückwahl ein. Sie hatte z.B. gegen die Inszenierung der "Lustigen Witwe" Bedenken - bemängelt wurden die Frivolität und die mangelnde moralische Basis des Stückes. Wahrscheinlich befürchtete man eine zu offenherzige Darbietung des Grisettenballettes. Die Gründe waren zu wenig triftig, so dass schließlich die Aufführung genehmigt wurde - allerdings unter Jugendverbot. Die Jugendlichen wurden jedoch nicht beim Eintritt kontrolliert, sondern erst, nachdem sie sich bereits im Zuschauerraum befunden hatten, von der Polizei wieder ausgewiesen (46). Das war 1948. 1946 rief in der innerösterreichischen Presse die Tatsache Aufruhr hervor, dass ein Stück von Hermann Bahr, "Das Konzert", zensuriert und neben vielen Pointen auch der Schlussszene entledigt worden war, weil einige Stimmen gegen die Unmoral dieses Lustspiels protestierten. Die Zensurierung erfolgte erst nach der Premiere (47).
Die Gemeinde Götzis - in früheren Jahrzehnten eine der Hochburgen der "Kasiner" - entwickelte in Fragen der Zensur besonders strenge Maßstäbe. Da wurde Schillers "Kabale und Liebe" aus folgenden Gründen verboten:
1. Der Held des Stückes, Ferdinand, flüchtet in den Selbstmord. Den Vorarlbergern sei jedoch durch "jahrhundertealtes Traditionsgut" der Selbstmord immer "fremd, unverständlich krankhaft und grauenerregend, ob der inneren Haltlosigkeit" erschienen. Nach den Kriegsnöten dürften nur Beispiele des Mutes und des Aufrufes genehmigt werden.
2. Durch die Katastrophe des Dritten Reiches sei das Volksvertrauen zu jeder Art Autorität erschreckend geschwunden. Der "redliche Führer", Landeshauptmann Ilg, könnte durch die Rolle des Präsidenten im Drama angegriffen werden.
3. Ein zünftiges Stück wie "Kabale und Liebe" könnte als Aktion gegen die Bourgeoisie, den "faulen Oberbau der bürgerlichen Schichte", aufgefasst werden. Vorarlberg bestehe aber seit Generationen zu achtzig bis neunzig Prozent aus dieser Schichte. Deshalb sei es in Vorarlberg notwendig, die "Untersten" anstelle der "Obersten" kritisch zu betrachten (48).
Dieser Brief an die Vorarlberger Landesbühne wurde am 12.6.1946, 162 Jahre nach der Uraufführung von "Kabale und Liebe", geschrieben.
Schiller hat sein Stück übrigens "ein bürgerliches Trauerspiel" genannt.
Bilanz
Die konservative Partei wurde als Partei zur "Verteidigung der Rechte der Kirche" gegründet. Ein politisches Programm im weiteren Sinn trat erst später hinzu. Die enge Verbindung mit der Kirche verlieh der konservativen Partei einen Einfluss auf die Vorarlberger Bevölkerung, den sie sonst wohl nicht gewonnen hätte.
In den ersten Jahren ihrer Existenz gelang es dieser Partei, in ihren Anhängern eine Art "Vorarlberg-Bewusstsein" zu wecken. Sie verstand es, das Bedürfnis nach sozialer und kultureller Identität eng mit ihren politischen Zielen zu verknüpfen.
In ihrer Demokratieauffassung unterschied sich die Partei deutlich vom Konzept der traditionellen Stände-Demokratie, doch ebenso deutlich von den Vorstellungen der bis 1870 dominanten liberalen Partei. Die politische und geistige Emanzipation des Individuums, einer der Kerngedanken der Aufklärung und lange Zeit ein Leitbild der Liberalen, war nie ein Anliegen der Konservativen.
Politik und Kulturpolitik sollten nach Auffassung der Konservativen stets mit den Zielen der katholischen Kirche in Einklang gebracht werden. Folglich konnte es auch nicht Aufgabe kultureller Bestrebungen sein, emanzipatorisches Gedankengut zu verbreiten. Literatur und Theater mit emanzipatorischem Anspruch, z.B. Schillers "Räuber" und "Kabale und Liebe", wurden konsequent abgelehnt.
Die Haltung der Konservativen gegenüber dem "liberalen Staat" hat ihre Haltung zum Staat allgemein wesentlich beeinflusst. In den Jahren von 1870 bis 1914, der Zeit des Liberalismus in Österreich schlechthin, verfolgte die konservative (später christlichsoziale) Partei Vorarlbergs eine betont klerikale Politik. Diese politische Frontstellung gegen die Liberalen und die Hauptstadt Wien förderte die Neigung, sich sowohl kulturellen Einflüssen, die vom "gehobenen Bürgertum" ausgingen, als auch politisch-geistigen Strömungen aus den Metropolen zu verschließen. Im Verkehr mit der gegnerischen liberalen Partei wurden außerdem Verhaltensmuster der Konfrontation und der Ausgrenzung geprägt, die später auch die Beziehungen etwa zur sozialdemokratischen Bewegung bestimmten.
Das Gedankengut der Aufklärung wurde in Vorarlberg in dem Maße zurückgedrängt, in dem es der konservativen Partei gelang, den Einfluss ihrer Gegner einzudämmen. Im Industrieland Vorarlberg konnte sich die Aufklärung, die große Errungenschaft des Bürgertums, als Leitbild politischen und kulturellen Handelns nicht durchsetzen.
Anmerkungen
1) Kurt Fassmann: Vorbemerkungen. In: Die Großen der Weltgeschichte, Band VIII, Charles Darwin bis Friedrich Nietzsche, München 1970, S. 9.
2) Vgl. Gerhard Oberkofler: Volks- und Fachschulgeschichte Vorarlbergs von 1869 - 1914. Phil. Diss., Innsbruck 1964. Kurt Tschegg: Sebastian Ritter von Froschauer, erster Landeshauptmann von Vorarlberg 1861 - 1873. Die Anfänge des Parlamentarismus in Vorarlberg. Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 46, Feldkirch 2006.
3) Gerhard Silberbauer: Österreichs Katholiken und die Arbeiterfrage. Graz-Wien-Köln 1966, S. 78 ff.
4) Johann Christoph Allmayer-Beck: Der Konservativismus in Österreich. München 1959, S. 56 ff.
5) Paula Geist: Geschichte Vorarlbergs im Jahre 1848/49. Ein Beitrag zur politischen Entwicklung des Landes im 19. Jahrhundert. Bern-Bregenz-Stuttgart 1922, S. 58.
8) Dritte Ansprache des Vereines der Verfassungsfreunde an die Vorarlberger. Feldkirch 1869, Privatbesitz des Verfassers.
9) Leo Haffner: Die Kasiner. Vorarlbergs Weg in den Konservativismus. Bregenz 1977, S. 31.
10) Allmayer-Beck (Anm. 4), S. 38.
12) Zitiert nach: Walter Spiegel: Das kirchliche Leben Vorarlbergs von 1855 bis 1870. Hausarbeit in Geschichte, Innsbruck o.J. (maschinschriftl. Manuskr.), S. 30.
13) Vgl. Walter Methlagl: Franz Michael Felder und Kaspar Moosbrugger im Kampf der politischen Parteien Vorarlbergs 1864-1868, Bregenz 1978
14) Vgl. Haffner (Anm. 9), S. 16 ff.
16) Zitiert nach: Pius Moosbrugger: Kaspar Moosbrugger als politischer Mensch. In: Kaspar Moosbrugger. Zur Wiederkehr seines 60. Todesjahres (= Beihefte des Franz-Michael-Felder-Vereins 2), Bregenz 1977, S. 11-23, hier S. 18.
20) Zitiert nach: Haffner (Anm. 9), S. 106.
21) Leo Herburger: Dr. J. G. Waibel, sein Leben und Wirken. Dornbirn 1909, S. 34 ff.
22) Pfarrer Thomas Hagen an den Fürstbischof von Brixen, 5. August 1884. Generalvikariatsarchiv Feldkirch, Mappe Klerus und Politik, verschiedene Aktenstücke.
23) Vgl. dazu: Leo Löwenthal: Zur politischen Psychologie des Autoritarismus, Frankfurt 1982, S. 273 ff.
24) Karl Heinz Burmeister: Geschichte Vorarlbergs. Ein Überblick. Wien 1980, S. 7.
25) Dorle Petsche-Rüsch: Die Entwicklung der politischen Parteien Vorarlbergs von 1870-1918. Dornbirn 1948, S. 4.
26) Ingo Binder: Vorarlberg im 1. Weltkrieg 1914-1918. Diss. Innsbruck 1959, S. 203.
27) Franz Vögel: Hundert Jahre Vorarlberger Landtag 1861-1961. In: Landstände und Landtag in Vorarlberg, Bregenz 1961, S. 87-191, hier S. 102.
28) Haffner (Anm. 9), S. 153f.
29) Nachlass Adolf Rhomberg, Lebenserinnerungen, handsch. Manuskr., Bibliotheksgut 152
30) Zitiert nach: Spiegel (Anm. 12), S. 25. Zur politischen Situation Vorarlbergs um 1860 vgl. auch Kurt Tschegg: Sebastian Ritter von Froschauer, Erster Landeshauptmann von Vorarlberg. Ein Beitrag zur Geschichte der Demokratie in Vorarlberg. Maschinschr. Diss., Innsbruck 1962.
31) Spiegel (Anm. 12), S. 20 ff.
33) Nachlass Dr. Josef Anton Oelz, Privatbesitz.
37) Erste Ansprache des Vereines der Verfassungsfreunde an die Vorarlberger. Zweite Auflage, Bregenz 1868, Privatbesitz.
38) Methlagl (Anm. 13), S. 12.
39) Benedikt Bilgeri: Die politische Entwicklung Vorarlbergs bis 1918. In: 50 Jahre selbständiges Land Vorarlberg 1918-1968. S. 41 ff.
40) Oberkofler (Anm. 2), S. 71 ff.
44) Sibylle Fritsch: Die Situation des professionellen Theaters der Nachkriegszeit in Vorarlberg mit besonderer Berücksichtigung der Bregenzer Festspiele (1945-1947). Maschinschr. Diss., Wien 1975.